Die Gedanken hinter MARK BRANDIS

„Oberstes Ziel des Staates muß es sein, die verhängnisvolle Kluft aufzuheben, die zwischen Realpolitik und Ethik klafft.“
— aus „Aufstand der Roboter“, Band 4

„Mark Brandis“ wurde in einer Zeit geschrieben, in der deutsche Science Fiction einen bedeutenderen Stellenwert in der Gesellschaft hatte als heute und viel Medienpräsenz auf sich vereinigte. Inmitten dieses Hochs bekam der Journalist, Hörspiel- und Abenteuerromanautor Nikolai von Michalewsky (im folgenden mit NvM abgekürzt) den Auftrag, ein SF-Buch zu schreiben. Dies war ein ungewöhnlicher Schritt, denn mit SF hatte der Autor eigentlich noch nie etwas am Hut gehabt.

Doch gerade dieses Quereinsteigen war es, das zum besonderen Flair der Serie beitrug. Mangels „Fachkenntnissen“ konnte und wollte NvM nicht am allgemeinen Tenor der SF-Serien teilnehmen, in dem Action und Technik eine höhere Rolle spielten als die Menschen. Stattdessen entschied er sich, den Spieß umzudrehen und die menschliche Interaktion in den Vordergrund zu stellen.

In fast jedem Band wird die erste große zentrale These von NvM ersichtlich: bei aller Technik und aller Wissenschaft ist der Mensch alleine das Maß der Dinge. Der menschliche Geist steht über allem. Politik, Wissenschaft und Religion sind für NvM alle blind: in der Hand eines Aufrechten sind sie Werkzeug und Medizin, in der Hand eines Verbrechers Zerstörer und Gift.

In dieselbe Kerbe schlägt die zweite große zentrale These: der Glaube, daß ein Einzelner das Schicksal der Welt verändern kann. Der Glaube, daß der Einzelne stets das System bestimmt und nicht umgekehrt, ist charakteristisch für NvM.

Sicher stecken in beiden Thesen eine gute Prise Gutgläubigkeit, wenn nicht sogar Naivität. Doch diese unaufdringlich, aber stets bestimmt vorgetragene, kämpferische Lebensbejahung ist auch Ausdruck einer sehr bestimmten Weltanschauung.

DIE FIGUREN

„Zeit seines Lebens war Professor Westhoff ein Mann der Wissenschaft gewesen, der sich stets von politischen Dingern ferngehalten hatte. Als er sich niederließ und die Kopfhörer überstreifte, wußte er, daß es keinen Sinn hatte, sich etwas vorzumachen. „Leben Sie wohl, Brandis! Retten Sie sich und ihr Schiff!“ schrie er ins Mikrofon. Das Letzte, was Professor Westhoff zu hören bekam, bevor er starb, war ein Fluch.“
–aus »Verrat auf der Venus«

Die Charaktere wurden im MB-Universum von bloßen Pappkameraden zu „echten“, vielschichtigen Persönlichkeiten. Natürlich gab es da auch futuristische Elemente (tolle Raumschiffe, Weltraumfights, SF-Technologie), aber sie spielten nicht die Hauptrolle. Im Mittelpunkt standen die Menschen, die mit diesen Technologien zurechtzukommen hatten.

Mit „Menschen“ meine ich auch keine Halbgötter, sondern Menschen wie du und ich. John Harris zum Beispiel, der Vorgesetzte von Mark Brandis, ist einer authentischsten Figuren, die ich jemals in der SF kennengelernt habe. Er ist weder ein Klischee noch ein Anti-Klischee. So eine vielschichtige, glaubwürdige und authentische Mischung aus Arroganz und Leidenschaft, Kälte und Tatkraft sowie Zwirn und Overall habe ich eigentlich nie wieder erlebt.

Anderes gutes Beispiel für NvMs reizvolle Persönlichkeitsprofile: zuvor war der Astronaut in der SF oft ein androgynes Wesen, der die Heldin mal kurz in den Arm nehmen und küssen durfte, aber mehr auch nicht. Doch gleich im ersten Band „Bordbuch Delta 7“ bringt NvM das Kunststück fertig, Familie und Abenteuer glaubwürdig in Einklang zu halten. Da Mark Brandis‘ Kollegen beide verheiratet sind und Kinder haben, wollen sie partout nicht flüchten, bis auch die Flucht ihrer Liebsten geregelt ist. Der bloße Ansatz ist in der SF immer noch etwas ganz Ungewöhnliches.

Die letzte große Komponente dieses Entwurfs war die Ansicht, daß Klugheit und Dummheit weder national, politisch oder sonst irgendwie außerpersönlich festgemacht werden können. Er beschrieb auch in pikanter Weise, wie unterschiedlich ein arroganter Deutscher, ein arroganter Afrikaner und ein arroganter Italiener so wirken. Ich hatte nie das Gefühl, daß NvM jemals vergaß, wie unterschiedlich verschiedene Kulturen dieselben Emotionen verarbeiten. Menschen sind wie Zutaten im Salat: alle schmackhaft, aber alle unterschiedlich.

DIE WELT

„Wie können sie Ihren Anblick im Spiegel ertragen, Brandis? Nichts als weiße Haut.“
John Malembo (aus »Operation Sonnenfracht«)

Ebenfalls bodenständig ist die Welt von „Mark Brandis“. Wenn mal die ganze SF wegläßt, so stellt man fest, daß die Reihe mit beiden Beinen in der Realität verankert war.
Kurz und knapp: es gibt im MB-Universum zwei große Machtblöcke, die Europäisch – Amerikanische – Afrikanische Union EAAU und die Vereinten Orientalischen Republiken VOR, dazu den großen Unbekannten, den inzwischen reichbesiedelten Mond. Die Stärke der EAAU war die überlegene Technologie, die der VOR die ungeheuere Bevölkerungszahl, und beide beäugten sich mit großem Mißtrauen.

Doch schaut man tiefer, sieht man, daß dieses Setting eine Stellungnahme zum Kalten Krieg ist, der 1970 (Band 1) gerade über seine frostige Klimax hinweg war. Wie in der damaligen Gegenwart gab es zwei Machtblöcke, EAAU (= NATO?) und VOR (= Warschauer Pakt?), dazu den Joker, den Mond (= China?), um deren Gunst beide Blöcke buhlten.

Die ganzen zwei Jahrzehnte der Serie verbrachte NvM damit, realistisch, aber auch immer hoffungsfroh das Ende des Kalten Krieges „herbeizuschreiben“. Stets strich er heraus, daß es einen Unterschied zwischen dem gibt, was die Herrscher wollen, und dem, was die Menschen wollen. Doch niemals verhehlte er eines: Friede muß immer wieder aufs Neue geschaffen werden, so lautete die Quintessenz, und es ist viel leichter, Krieg zu stiften als Versöhnung — überall lauern Wegelagerer, Ewiggestrige, Opportunisten und Terroristen, die für ihre Zwecke über Leichen gehen.

DIE FORM

Ibaka: „Geben Sie nicht auf, Sir!“
Brandis: „Auch wenn es nichts einbringt?“
Ibaka: „Es bringt zumindest ein Stück Selbstachtung.“

— aus »Aufstand der Roboter«

Ich mag NvMs Erzählstil. Er schafft es, auf engstem Raum kräftige Striche anzubringen, die eine weitere feinere Beschreibung fast überflüssig machen. Er ist kein Mann vieler Worte, er läßt lieber Taten sprechen. Ohne ein Gramm Fett wird der Leser mit bewundernswerter Zielstrebigkeit durch die Episoden der Weltraumpartisanen geführt. NvM gehört zu den **ganz** wenigen Autoren, die eher zu wenige als zu viele Worte benutzen, und ich mag das. (Wer jemals Hohlbein, Williams oder Bradley gelesen hat, weiß, wovon ich rede!!!)

Ich bin einer der Menschen, die nämlich schnell abhaken, wenn sie merken, daß der Autor viel redet und nichts sagt. Ich mag klare, gerade Linien, schwarz auf weißem Grund. Natürlich haben verschnörkelte Barockbilder mit x Strukturen und y Farben auch was für sich, aber ich mag es lieber einfach und rudimentär — weniger ist mehr, lautet mein Motto. Mein Lieblingsmaler ist Piet Mondrian und mein Lieblingsdichter Ernst Jandl, damit wißt Ihr, daß ich ein Fan des Reduktionismus bin.

KRITISCHE WÜRDIGUNG

Die Reihe hat auf ewig einen Logenplatz in meinem Gedächtnis gefunden. Doch ich lese die Reihe nicht mehr häufig, und wenn, dann nur die ersten vier Bände. Das hängt vor allem damit zusammen, daß das MB-Universum, so stimmig viele Punkte auch im neuen Millennium sind, einige „Bolzen“ enthält, die schlicht nicht mehr zeitgemäß sind.

Ich verlange nicht, daß NvM über jedes naturwissenschaftliche Gesetz informiert ist. Daher habe ich auch keine Bedenken, Dinge wie „künstliche Gravitation“ oder das „Protonentriebwerk“ zu schlucken, obwohl NvM mit keinem Wort auf das wie funktioniert es eingeht. Es ist eben für die Handlung total unwichtig, und ich akzeptiere das ja auch. Doch Sachverhalte wie „Schwarze Löcher“ auf hanebüchene Weise einzubauen oder Raumfahrt nach dem Motto „Erde – Mars in 36 Stunden“ (jemals berücksichtigt, daß es auch sowas wie „Trägheit“ und „Beschleunigungsdruck“ gibt???) stoßen mir auf.

Dazu kommen andere Anachronismen. Wie MB die rigide militärische Hierarchie akzeptiert, das Hochdienen an vorgegebenen Schablonen, war schon 1970 fragwürdig. Das ist Zeug aus dem Kalten Krieg und keineswegs mehr im Jahre 2070 denkbar. Zudem scheint die Emanzipation an NvM vorbeigegangen zu sein. Zur Klarheit: NvM ist alles andere als ein Chauvinist. Er akzeptiert Frauen, und er läßt Frauen auch den gebührenden Respekt zukommen: Iris Monnier, Ludmilla Wolska und Ruth O’Hara sind gute Beispiele dafür. Sie sind starke, eigenständige Personen. Doch wo sind die weiblichen Astronauten? Es gibt keine, denn die VEGA ist Männersache. Hier zeigt sich, daß NvM Frauen doch eben nicht völlig gleichberechtigt sieht.

Dennoch überwiegen ganz eindeutig die positiven Punkte. Das ganze KONZEPT — die Einstellung, daß auch und gerade in der Zukunft der MENSCH die zentrale Rolle spielen wird, umrahmt von einem kräftigen Stoß Realitätsbezug und einem guten Schuß Action — ist viel zu gut und vor allem viel zu ZEITLOS, als daß sie durch ein paar Detailfehler zerstört werden könne. Es ist exzellente Jugendliteratur, bedenkenlos jedem Teenager in die Hand zu drücken — und wie jede gute Jugendliteratur verblaßt ihr Charme auch nicht, wenn man reifer, älter und ernster wird. 🙂

Leider ist Mark Brandis fast völlig aus dem Sprachgebrauch des heutigen deutschsprachigen SF-Fans verschwunden, was ich sehr schade finde. Vielleicht hilft diese Site etwas, dieses Defizit aufzuarbeiten. Wie wäre es mit einem Relaunch mit einem talentierten jungen Autor, der die Abenteuer von Mark Brandis‘ Zögling beschreibt? Stoff für die Reihe bietet die Gegenwart genug: Internetkrimininalität, Umweltverschmutzung oder die zunehmende Automatisierung des Lebens, um ein paar Dinge zu nennen. Jedenfalls kann mir niemand die Erinnerung an die Zeit nehmen, an der ich Seite an Seite mit Mark Brandis auf Asinara gefoltert wurde, den Untergang Smiths erlebte, Kolibri zu Schrott flog, in ASTROPOLIS Todesangst durchstand und schließlich den dreisten Konsul Dreyer stellte.

Bima Djaloeis (verfaßt 1999)

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