Artikel zur Entstehung (zweiter Teil)

Von denen, die auszogen, Mark Brandis zu vertonen — zweiter Teil

(Artikel teilw. aus dem Anhang der Neuauflage von »Operation Sonnenfracht«)

Nikolai von Michalewsky hatte seine Geschichten immer vom Verfassungszeitpunkt etwa 100 Jahre in die Zukunft projiziert. Für einen Menschen ist ein Jahrhundert gerade noch greifbar. Eine alte Tante erzählte mir einmal, sie habe in ihrer Jugend in einem Urlaub in Frankreich mit einer Dame gesprochen, die ihrerseits als junge Ladengehilfin in Arles in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts Stifte an Vincent van Gogh verkauft habe. Ein vergleichbares Erlebnis verband von Michalewsky mit einem Nachfahren Napoleons. So rücken 100 Jahre auf zwei Menschenalter zusammen und werden erfühlbar.

Die Hürde der Re-Imagination

Trotz der menschlichen Nähe und der Wahrscheinlichkeit, dass sich der Mensch in seiner Essenz als Mensch in einem Jahrhundert nur unwesentlich verändert haben wird, haben sich seit 1970 die technischen Gegebenheiten rapide entwickelt. Vieles in den Büchern wirkt anachronistisch — nachvollziehbar aus der Perspektive von damals, aber für ein heutiges Hörpublikum sehr „retro“. Dort gibt es Bordcomputer, die man neu programmieren muss, um einen Kurs anzulegen; Weltraumstürme beuteln das Schiff; die Reisezeiten zu entfernten Planeten werden je nach dramaturgischer Erfordernis mal nach Monaten, mal nach Wochen oder Tagen berechnet. Das Fernsehen und die Zeitungen haben sich nicht weiterentwickelt; Berichte und Bordbücher werden auf Papier weitergegeben; und unglaubliche Ingenieursleistungen wurden noch im 20. Jahrhunderts begonnen oder fertiggestellt (Metropolis bzw. PILGRIM 2000). Es wäre unklug, nur um des Originaltextes willen diese Eigenheiten beizubehalten — zumal es dem Autor um die technischen Details nie wirklich ging.

Ist diese Schranke einer zwanghaften Originaltreue aber erst einmal gefallen, nimmt man sich also die „Aussage“, den Kern der Geschichte als Leitfaden, ergeben sich andere Schwerpunkte. Teilweise liegen sie im Medium Hörspiel, das als akustische Form auf anderen Ebenen als das Buch erzählen muss; mit allen Vor- und Nachteilen. Wir können eine Raumschlacht zum Leben erwecken, wir können die folterbedingte Erschöpfung in der Stimme von Iris spüren lassen, wenn sie mit Mark Brandis auf INTERPLANAR XII spricht; aber …

Weißt du wirklich, was das heißt: allein zu sein unter den Sternen, preisgegeben der Unendlichkeit, die dich frieren lässt, sobald sie dein Bewusstsein streift? Wahrscheinlich weißt du es nicht. Die wenigsten haben es erfahren. Es ist das grausamste Glück, das man sich erträumen kann. Einige, die es durchleben mussten, haben dabei das Beten wieder gelernt; andere verloren den Verstand.
(aus „Aufstand der Roboter“)

… wunderschöne epische Gedanken wie diese nicht belehrend wirken oder (ohne Erzähler) spürbar zu machen, ist für das Hörspiel nur schwer zu leisten. Darauf müssen wir uns beim Schreiben und Produzieren immer neu einstellen: wir müssen die Stärken des Mediums nutzen und die Schwächen versuchen zu kompensieren.

Beim Re-Imaginieren der Welt von Mark Brandis habe ich hauptsächlich Vorbilder in epischen SF-TV-Serien gesucht — leider sind die ausschließlich in den USA zu finden. Eines der Vorbilder war »Battlestar Galactica«, ein 2003 mit großer Skepsis betrachteter Versuch, die 70er-Jahre-SF-Serie »Kampfstern Galactica« in einem neuen Kontext für ein heutiges Publikum zu adaptieren.
httpv://www.youtube.com/watch?v=q2x14ZhEc9k
Das Resultat war atemberaubend. Das Leiden einer Fluchtgemeinschaft, die nach einem Holocaust auf der Suche nach einer neuen Heimat ist und dabei auch innerlich-menschlich durch die Hölle muss, wurde nicht beschönigt. Die Änderungen gegenüber der Vorlage waren teilweise drastisch — Charaktere der Originalserie wechselten das Geschlecht oder durchliefen eine komplette Neudefinition. Die Welt der zwölf Kolonien wurde neu entworfen und strukturiert, ohne die Wurzeln zu verleugnen oder zu verraten. Alle Grautöne und Schattierungen waren vorhanden. In den vier Staffeln der Serie war die Technik zwar Bestandteil der Geschichten, aber nie Selbstzweck.

Ähnlich »menschlich« versuche ich auch die Hörspielserie zu schreiben. Um mir selbst (und später Regina Schleheck, die das Pilotskript verfasste) zu helfen, hatte ich 2005 eine Bibel für die Serie geschrieben. Technische Gegebenheiten können sich genauso ändern wie Handlungsabläufe, aber es geht immer um die eigentliche Aussage der Geschichte. Leitbild ist mir die charakterliche Entwicklung der Figur MARK BRANDIS, die immer im Spannungsfeld zwischen Loyalität, Menschlichkeit, Pflichtbewußtsein und Prinzipien steht und deswegen nie ganz zur einen oder zur anderen Seite gehört. Beim Abwägen dieser Fragen ist mir Frau von Michalewsky eine große Hilfe, die genau hier mit einem kritisch-konstruktiven Auge über die Intentionen ihres Mannes wacht.

Die Veränderungen gegenüber den Büchern sind teilweise drastisch. So habe ich in Unternehmen Delphin General Smith nach dem Vorbild des Großinquisitors (aus den Brüdern Karamasow von Dostojewski) in einer Gefängniszelle ein langes Gespräch mit Mark Brandis führen lassen, das im Buch nie vorkommt. Eine Zahl männlicher Charaktere sind nun weiblich (Rodriguez, Danielson, Vidal, Levy), dafür ist Harris‘ Sekretärin »Annegret Sauerlein« nun ein »Magnus Sauerlein«. Ganze Handlungsstränge sind neu erfunden (insbesondere bei den Vollstreckern) oder umgeschrieben (Raumsonde Epsilon bzw. PILGRIM 2000).

Gerade zu Beginn der Serie gab es auch Kritik seitens treuer Fans der Bücher. Aber inzwischen freue ich mich darüber, dass die Hörer anscheinend keinen Widerspruch mehr empfinden, dass es nun beide Welten gibt: die des Mark Brandis im Buch, und des Mark Brandis im Hörspiel.

2016: Die Serie ist nun vollständig erschienen. Danke, dass wir sie machen durften!

B. v. Weymarn

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