Liegt Fukushima am Kilimandscharo?

In den 80er Jahren wirkte die Zukunft, die Nikolai von Michalewsky in seinen MARK BRANDIS – Romanen entwarf, in Teilen irgendwie anachronistisch. Das bezog sich durchaus nicht nur auf Erfindungen wie den „Letterator“, der wie eine altmodische Variante des Faxgerätes aussah, oder die relative Unbedeutsamkeit der Informationstechnologie für die Raumfahrt, in der Rechner für eine Kursänderung „neu programmiert“ werden mußten. Auch die politische Gesamtlage mit zwei großen Superblöcken, klar modelliert anhand der USA-UdSSR-Antagonie, wirkte weniger nach „morgen“ als nach „gestern“ schauend. Dass China statt Russland den Ton angab, war — je nach Blickwinkel des Lesers — entweder der „Farbklecks anders“ oder einfach die Umsetzung der Angst vor der gelben Gefahr, die in populärpolitischen Zeitschriften der 1960er Jahre bis zum SPIEGEL weit verbreitet war. Dass von Michalewsky sich nicht als SF-Autor bezeichnete und auch nicht besonders ehrgeizig schien, seine Zukunftsvisionen auf „Treffer“ hinzuentwickeln, schien diese Blickwinkel zu rechtfertigen.

Schaut man sich die wachsende Bedeutung Chinas als Gegenpol zum „Westen“ heute an, denkt man vielleicht anders darüber.

Operation Sonnenfracht (Link zum Buchinhalt)

Operation Sonnenfracht (Link zum Buchinhalt)

Als von Michalewsky 1975 „Operation Sonnenfracht“ verfasste, gab es noch keine Großunfälle in Harrisburg oder Tschernobyl, geschweige denn einen nennenswerte atombewegte Friedensinitiative in Europa. Die Frage des Atommülls und dessen Lagerungsorte, die Jahrzehnte später Schlagworte in aller Munde sind (Asse, Gorleben) beschäftigte die Öffentlichkeit damals kaum. Umso erstaunlicher war es, dass dieser Roman nicht nur mit diesem Thema an seine meist jugendliche Leserschaft trat, das erschreckend dystopisch wirkte, sondern auch, dass zum ersten Mal der Held der Geschichte, der von Bürgerkrieg über Terroristenanschläge und allmächtige Polizeicomputer eine Menge Gefahren bereits überstanden hatte, hier zu scheitern drohte …

Die Ursache-Wirkung-Kombination „Erdbeben –> Sicherheit von Kernenergietechnik“ verbindet den fiktionalen Abenteuerroman „Operation Sonnenfracht“ (der die hastige Räumung eines Atommüllagers im Kilimandscharo zum Inhalt hat) mit der Realität der Folgen des Seebebens auf die KKW-Anlagen von Fukushima. Beiden Situationen gemeinsam sind Menschen, die unter Einsatz ihres Lebens und ihrer Gesundheit versuchen, ein weitreichendes Unglück zu verhindern, und denen aller Wahrscheinlichkeit nach zumindest teilweise einen hoher Preis abverlangt werden wird.
Kilimandscharo im Dez 2009 (C) Muhammad Mahdi Karim

Kilimandscharo im Dez 2009 (C) Muhammad Mahdi Karim, verwendet gem. GNU FDL 1.2 (hinter dem Bild verlinkt)


Gedanken bei der Umsetzung

Mir als Autor der Hörspieladaption ist es zugleich recht wie auch unangenehm, dass der geplante Veröffentlichungszeitpunkt des Hörspiels im Juli 2011 so nah an den Ereignissen liegt, dass man uns möglicherweise unlautere Absichten unterstellen wird — ungeachtet dessen, dass die Sprachaufnahmen bereits seit Januar abgeschlossen sind. Denn: eines der Anliegen des Autors der Bücher war es immer, den Menschen in aktivem und engagiertem Konflikt mit moralischen Fragen zu zeigen. Hier, in „Operation Sonnenfracht“, war es der Blick der Zukunft, der sich zurück auf die Vergangenheit richtet: „seht, was unsere Kindergenerationen vor sich haben werden“.

Nikolai von Michalewsky war kein Träumer, kein weltfremder Spinner, der sich Welten herbeischrieb, die mit der conditio humana nichts zu tun hatten. Für ihn war das Schlamassel, in das Mark Brandis und seine Crew geraten, nicht abstrakt, sondern schon Realität. Kein „was wäre, falls“, sondern ein „was ist, sowie“. Der Mensch, der sich der Konsequenzen seines Handelns bewußt wird und sie bedenkt, handelt anders.

In der Einsatzbesprechung mit seiner Crew habe ich in meiner Bearbeitung Mark Brandis ein paar zusätzliche Sätze sagen lassen, die so nicht im Buch stehen:

Das Essen meiner Kinder und Enkel schmeckt mir solange gut, wie ich nicht nachdenken muss. Und den Müll stelle ich gerne dorthin, wo ich ihn nicht sehe. Was in zwei Generationen damit passiert, ist nicht mehr meine Verantwortung. Und solange wir nicht daraus lernen, werden wir bluten müssen. Immer und immer wieder. Bis es vielleicht endlich einmal in unseren verdammten Genen sitzt.

Früher als erwartet stehen wir als Menschheit, nicht als isolierte Nationen, wieder einmal vor der Frage, ob uns ein Lernschritt gelingen wird — oder ob wir durch weiteres Leid gehen müssen, weil wir uns von individuellem Wohlstand und Eigennutzdenken nicht trennen wollen.

Das Buch hat seine Wirkung ja schon erzielt. Ich bin gespannt, ob und wie das Hörspiel vor diesem Hintergrund als diskussionswürdig betrachtet werden wird.

Die »Michalewsky-Vision«

Auszug eines Essays von Dr. Alexander Seibold, erschienen in „Die Vollstrecker“ (Wurdack-Neuauflage), „Das SF-Jahr 2006“ (Heyne Verlag) und der Zeitschrift „phantastisch!“ #28:

[…] Für alle, die ihn nicht kennen: Ich halte ihn für einen Nachfahren von Oscar Wilde. Manche meinen zwar, er sei ein Autor von Abenteuerromanen, Reise- und Räuberromanen gewesen. Aber das ist Quatsch. Er war kein Friedrich Gerstäcker, kein Jack London und auch kein Karl May, sondern ein Moralist – literarisch gesehen.
Auch wenn ich den Beweis hier schuldig bleiben muss, für mich hat sich Nikolai von Michalewsky mit seiner Mark Brandis-Reihe in eine Traditionslinie hineingeschrieben, die innerhalb der europäischen Moralistik zu bedeutenden Literaten geführt hat: In Frankreich zu Michel Eyquem de Montaigne, in England zu Oscar Wilde und in Deutschland zu Georg Christoph Lichtenberg.

Nikolai von Michalewskys literarischer Ort ist nicht im Feld der unterhaltenden Erzählung zu suchen, sondern genau dort, in der europäischen Moralistik. Und hier ist er das nicht unbedingt häufige Exemplar eines Romanschriftstellers. Als solcher ist er übrigens – das sollte unbedingt erwähnt werden – einer, der es meisterlich versteht, Spannung zu erzeugen und immer weiter zu steigern, schier bis an die Grenze des gerade noch Erträglichen.
Seine Themen sind stets von einer pazifistischen Grundhaltung bestimmt, handeln aber vielleicht gerade deshalb immer wieder von politischen Konflikten und von bewaffneten Auseinandersetzungen. Seine Erlebnisse im Krieg haben ihn ebenso geprägt, wie die Erfahrungen mit Militärpersonal und deren Umgang mit Macht, Moral und Gewalt. In einigen Mark Brandis-Bänden findet man Sätze etwa der folgenden Art:

Militärs sind immer nur das Produkt jener Welt, die sie besoldet. Von Anfang an dazu erzogen, nur in den Kategorien Macht und militärische Stärke zu denken, sind sie zwangsläufig amoralisch. Ihre einzige Moral ist die militärische Überlegenheit ihres Vaterlandes. (»Raumsonde Epsilon«, S. 152.)

In den Mark Brandis-Romanen, die mitten im Kalten Krieg entstanden, bekundete Nikolai von Michalewsky ganz offen, dass ihn ein Gleichgewicht der Kräfte ebenso wenig überzeugen konnte, wie eine Politik der Abschreckung oder gar der Präventivgewalt. Ihm ging es vielmehr um ein »Gleichgewicht der Brüderlichkeit«.
Im Rahmen seiner schriftstellerischen Arbeit propagierte Nikolai von Michalewsky immer und immer wieder Brüderlichkeit, Solidarität und Humanität. Ist das ein Zeichen einer speziellen Ethik? Existiert möglicherweise eine Art Rückbindung an Glaube und Religion?

Bei metaphysischen Themen, bei Fragen nach dem Aufscheinen von Transzendenz in der Menschenwelt, tut sich das bei weitem größere Feld der Literatur schwer. Bei Nikolai von Michalewsky dagegen klingt immer wieder etwas an, das größer ist als die Erfahrungswelt der dreidimensionalen Wesen, die den Planeten Nummer Drei der Sonne bevölkern.

Dieses Größere könnte vorsichtig als »festes Wertekonzept« bezeichnet werden. Dieses Wertekonzept ist denen, die sich trotz aller Probleme, Schwierigkeiten und Zweifel danach richten, eine Hilfe, eine Stütze, eine unbedingte Richtschnur. Interessant hierbei: Was Nikolai von Michalewsky wirklich interessierte, war nie der technische Fortschritt, sondern ein ganz anderer: der »Fortschritt der Moral, der Brüderlichkeit, der Liebe«, wie er in dem exemplarischen Roman »Raumsonde Epsilon« (S. 192) notierte.

Dieser Fortschritt ist an Mark Brandis selbst, dem Helden der Serie, übrigens gut zu beobachten. Seine Devise: Woran du glaubst, dafür sollst du leben und sterben. Brandis verlässt eines Tages den halbautonomen raumfahrttechnischen Mammutkonzern VEGA »Erde-Venus, Gesellschaft für Astronautik«, wo er einst als Pilot, später als Commander, unter den Sternen geflogen war, um sich in den Dienst der UGzRR, der Johanniterflotte unter den Sternen, zu stellen. UGzRR bedeutet: Unabhängige Gesellschaft zur Rettung Raumschiffbrüchiger; eine blockfreie, humanitäre Hilfsorganisation mit Piloten und Ärzten verschiedener Hautfarbe, verschiedener kultureller Herkunft und verschiedener Religion. Der Anklang an die DGzRS in Kiel, die sich der Seenotrettung verschrieben hat, ist unüberhörbar.

httpv://www.youtube.com/watch?v=6mNMNhEGVNE

Nikolai von Michalewsky, der Dokumentarsendungen über das Leben auf dem Meer, Bohrinseln und eben die Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger produziert hat, fühlte sich den Männern und Frauen auf den Seenotkreuzern eng verbunden. Aus Wertschätzung für deren Dienst verdingte er sich sogar für freiwillige Einsätze auf den Rettungsbooten. Getreu seinem Grundsatz »Schreiben aus dem Erleben« mag nicht verwundern, dass der Autor seinen Protagonisten vom VEGA-Konzern zur UGzRR wechseln ließ.

[…] Die Protagonisten der WELTRAUMPARTISANEN gerieten zu lebendigen Verkörperungen der facettenreichen Strömungen, die unsere Zeit bestimmen, die die Menschen prägen und ihre Nöte sichtbar werden lassen. So mancher Kämpfer um Mark Brandis ist gestorben für das, woran er geglaubt hat.

Und der Autor der Reihe? Nikolai von Michalewsky dichtete einmal:

»es kommt der tag.
und keiner kann mich halten.
es steht im buch.
das fest sei aus.
und so, im banne von gewalten,
verlass ich dich, verlasse ich mein haus –
arm wie ich kam.
doch eines darf nicht fehlen
auf meinem weg zu Gottes thron:
gib mir die liebe mit ins reich der seelen
gib mir die liebe mit als meinen lohn!«

Die Gedanken hinter MARK BRANDIS

„Oberstes Ziel des Staates muß es sein, die verhängnisvolle Kluft aufzuheben, die zwischen Realpolitik und Ethik klafft.“
— aus „Aufstand der Roboter“, Band 4

„Mark Brandis“ wurde in einer Zeit geschrieben, in der deutsche Science Fiction einen bedeutenderen Stellenwert in der Gesellschaft hatte als heute und viel Medienpräsenz auf sich vereinigte. Inmitten dieses Hochs bekam der Journalist, Hörspiel- und Abenteuerromanautor Nikolai von Michalewsky (im folgenden mit NvM abgekürzt) den Auftrag, ein SF-Buch zu schreiben. Dies war ein ungewöhnlicher Schritt, denn mit SF hatte der Autor eigentlich noch nie etwas am Hut gehabt.

Doch gerade dieses Quereinsteigen war es, das zum besonderen Flair der Serie beitrug. Mangels „Fachkenntnissen“ konnte und wollte NvM nicht am allgemeinen Tenor der SF-Serien teilnehmen, in dem Action und Technik eine höhere Rolle spielten als die Menschen. Stattdessen entschied er sich, den Spieß umzudrehen und die menschliche Interaktion in den Vordergrund zu stellen.

In fast jedem Band wird die erste große zentrale These von NvM ersichtlich: bei aller Technik und aller Wissenschaft ist der Mensch alleine das Maß der Dinge. Der menschliche Geist steht über allem. Politik, Wissenschaft und Religion sind für NvM alle blind: in der Hand eines Aufrechten sind sie Werkzeug und Medizin, in der Hand eines Verbrechers Zerstörer und Gift.

In dieselbe Kerbe schlägt die zweite große zentrale These: der Glaube, daß ein Einzelner das Schicksal der Welt verändern kann. Der Glaube, daß der Einzelne stets das System bestimmt und nicht umgekehrt, ist charakteristisch für NvM.

Sicher stecken in beiden Thesen eine gute Prise Gutgläubigkeit, wenn nicht sogar Naivität. Doch diese unaufdringlich, aber stets bestimmt vorgetragene, kämpferische Lebensbejahung ist auch Ausdruck einer sehr bestimmten Weltanschauung.

DIE FIGUREN

„Zeit seines Lebens war Professor Westhoff ein Mann der Wissenschaft gewesen, der sich stets von politischen Dingern ferngehalten hatte. Als er sich niederließ und die Kopfhörer überstreifte, wußte er, daß es keinen Sinn hatte, sich etwas vorzumachen. „Leben Sie wohl, Brandis! Retten Sie sich und ihr Schiff!“ schrie er ins Mikrofon. Das Letzte, was Professor Westhoff zu hören bekam, bevor er starb, war ein Fluch.“
–aus »Verrat auf der Venus«

Die Charaktere wurden im MB-Universum von bloßen Pappkameraden zu „echten“, vielschichtigen Persönlichkeiten. Natürlich gab es da auch futuristische Elemente (tolle Raumschiffe, Weltraumfights, SF-Technologie), aber sie spielten nicht die Hauptrolle. Im Mittelpunkt standen die Menschen, die mit diesen Technologien zurechtzukommen hatten.

Mit „Menschen“ meine ich auch keine Halbgötter, sondern Menschen wie du und ich. John Harris zum Beispiel, der Vorgesetzte von Mark Brandis, ist einer authentischsten Figuren, die ich jemals in der SF kennengelernt habe. Er ist weder ein Klischee noch ein Anti-Klischee. So eine vielschichtige, glaubwürdige und authentische Mischung aus Arroganz und Leidenschaft, Kälte und Tatkraft sowie Zwirn und Overall habe ich eigentlich nie wieder erlebt.

Anderes gutes Beispiel für NvMs reizvolle Persönlichkeitsprofile: zuvor war der Astronaut in der SF oft ein androgynes Wesen, der die Heldin mal kurz in den Arm nehmen und küssen durfte, aber mehr auch nicht. Doch gleich im ersten Band „Bordbuch Delta 7“ bringt NvM das Kunststück fertig, Familie und Abenteuer glaubwürdig in Einklang zu halten. Da Mark Brandis‘ Kollegen beide verheiratet sind und Kinder haben, wollen sie partout nicht flüchten, bis auch die Flucht ihrer Liebsten geregelt ist. Der bloße Ansatz ist in der SF immer noch etwas ganz Ungewöhnliches.

Die letzte große Komponente dieses Entwurfs war die Ansicht, daß Klugheit und Dummheit weder national, politisch oder sonst irgendwie außerpersönlich festgemacht werden können. Er beschrieb auch in pikanter Weise, wie unterschiedlich ein arroganter Deutscher, ein arroganter Afrikaner und ein arroganter Italiener so wirken. Ich hatte nie das Gefühl, daß NvM jemals vergaß, wie unterschiedlich verschiedene Kulturen dieselben Emotionen verarbeiten. Menschen sind wie Zutaten im Salat: alle schmackhaft, aber alle unterschiedlich.
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Abenteuerserien als Beispiele

Artikel von Anton Baumeister

Wiederholung ist ein Lebensgesetz – es prägt auch die Literatur: Den Kinderreim ebenso wie hohe lyrische Kunstformen, epische Grundmuster wie die wiederkehrenden Themen großer Erzähler. In den Unterhaltungsmedien unserer Zeit findet sich die Wiederholung in einer bevorzugten Form der Serie. Fortsetzungsromane und Comics, Westernhefte und vielbändige Romane aus Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft. Hörfunkbeiträge, Ratespiele, Kinofilme und Fernsehfolgen belegen diese Feststellung. Sie machen aber auch eine Zwiespältigkeit deutlich: kaum ein Leser, Hörer oder Zuschauer vermag sich der Anziehungskraft abgewandelter Wiederholungen zu entziehen, aber oft genug mischt sich kritisches Unbehagen in einen Genuss, der ungern zugegeben wird.

Wertvolle Serien? Eher bezeichnet man so etwas als mehr oder weniger unvermeidliches Erzeugnis zur Befriedigung von Bedürfnissen. Kunst sollte einmalig sein, nicht wiederholbar.
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