Liegt Fukushima am Kilimandscharo?

In den 80er Jahren wirkte die Zukunft, die Nikolai von Michalewsky in seinen MARK BRANDIS – Romanen entwarf, in Teilen irgendwie anachronistisch. Das bezog sich durchaus nicht nur auf Erfindungen wie den „Letterator“, der wie eine altmodische Variante des Faxgerätes aussah, oder die relative Unbedeutsamkeit der Informationstechnologie für die Raumfahrt, in der Rechner für eine Kursänderung „neu programmiert“ werden mußten. Auch die politische Gesamtlage mit zwei großen Superblöcken, klar modelliert anhand der USA-UdSSR-Antagonie, wirkte weniger nach „morgen“ als nach „gestern“ schauend. Dass China statt Russland den Ton angab, war — je nach Blickwinkel des Lesers — entweder der „Farbklecks anders“ oder einfach die Umsetzung der Angst vor der gelben Gefahr, die in populärpolitischen Zeitschriften der 1960er Jahre bis zum SPIEGEL weit verbreitet war. Dass von Michalewsky sich nicht als SF-Autor bezeichnete und auch nicht besonders ehrgeizig schien, seine Zukunftsvisionen auf „Treffer“ hinzuentwickeln, schien diese Blickwinkel zu rechtfertigen.

Schaut man sich die wachsende Bedeutung Chinas als Gegenpol zum „Westen“ heute an, denkt man vielleicht anders darüber.

Operation Sonnenfracht (Link zum Buchinhalt)

Operation Sonnenfracht (Link zum Buchinhalt)

Als von Michalewsky 1975 „Operation Sonnenfracht“ verfasste, gab es noch keine Großunfälle in Harrisburg oder Tschernobyl, geschweige denn einen nennenswerte atombewegte Friedensinitiative in Europa. Die Frage des Atommülls und dessen Lagerungsorte, die Jahrzehnte später Schlagworte in aller Munde sind (Asse, Gorleben) beschäftigte die Öffentlichkeit damals kaum. Umso erstaunlicher war es, dass dieser Roman nicht nur mit diesem Thema an seine meist jugendliche Leserschaft trat, das erschreckend dystopisch wirkte, sondern auch, dass zum ersten Mal der Held der Geschichte, der von Bürgerkrieg über Terroristenanschläge und allmächtige Polizeicomputer eine Menge Gefahren bereits überstanden hatte, hier zu scheitern drohte …

Die Ursache-Wirkung-Kombination „Erdbeben –> Sicherheit von Kernenergietechnik“ verbindet den fiktionalen Abenteuerroman „Operation Sonnenfracht“ (der die hastige Räumung eines Atommüllagers im Kilimandscharo zum Inhalt hat) mit der Realität der Folgen des Seebebens auf die KKW-Anlagen von Fukushima. Beiden Situationen gemeinsam sind Menschen, die unter Einsatz ihres Lebens und ihrer Gesundheit versuchen, ein weitreichendes Unglück zu verhindern, und denen aller Wahrscheinlichkeit nach zumindest teilweise einen hoher Preis abverlangt werden wird.
Kilimandscharo im Dez 2009 (C) Muhammad Mahdi Karim

Kilimandscharo im Dez 2009 (C) Muhammad Mahdi Karim, verwendet gem. GNU FDL 1.2 (hinter dem Bild verlinkt)


Gedanken bei der Umsetzung

Mir als Autor der Hörspieladaption ist es zugleich recht wie auch unangenehm, dass der geplante Veröffentlichungszeitpunkt des Hörspiels im Juli 2011 so nah an den Ereignissen liegt, dass man uns möglicherweise unlautere Absichten unterstellen wird — ungeachtet dessen, dass die Sprachaufnahmen bereits seit Januar abgeschlossen sind. Denn: eines der Anliegen des Autors der Bücher war es immer, den Menschen in aktivem und engagiertem Konflikt mit moralischen Fragen zu zeigen. Hier, in „Operation Sonnenfracht“, war es der Blick der Zukunft, der sich zurück auf die Vergangenheit richtet: „seht, was unsere Kindergenerationen vor sich haben werden“.

Nikolai von Michalewsky war kein Träumer, kein weltfremder Spinner, der sich Welten herbeischrieb, die mit der conditio humana nichts zu tun hatten. Für ihn war das Schlamassel, in das Mark Brandis und seine Crew geraten, nicht abstrakt, sondern schon Realität. Kein „was wäre, falls“, sondern ein „was ist, sowie“. Der Mensch, der sich der Konsequenzen seines Handelns bewußt wird und sie bedenkt, handelt anders.

In der Einsatzbesprechung mit seiner Crew habe ich in meiner Bearbeitung Mark Brandis ein paar zusätzliche Sätze sagen lassen, die so nicht im Buch stehen:

Das Essen meiner Kinder und Enkel schmeckt mir solange gut, wie ich nicht nachdenken muss. Und den Müll stelle ich gerne dorthin, wo ich ihn nicht sehe. Was in zwei Generationen damit passiert, ist nicht mehr meine Verantwortung. Und solange wir nicht daraus lernen, werden wir bluten müssen. Immer und immer wieder. Bis es vielleicht endlich einmal in unseren verdammten Genen sitzt.

Früher als erwartet stehen wir als Menschheit, nicht als isolierte Nationen, wieder einmal vor der Frage, ob uns ein Lernschritt gelingen wird — oder ob wir durch weiteres Leid gehen müssen, weil wir uns von individuellem Wohlstand und Eigennutzdenken nicht trennen wollen.

Das Buch hat seine Wirkung ja schon erzielt. Ich bin gespannt, ob und wie das Hörspiel vor diesem Hintergrund als diskussionswürdig betrachtet werden wird.

Die »Michalewsky-Vision«

Auszug eines Essays von Dr. Alexander Seibold, erschienen in „Die Vollstrecker“ (Wurdack-Neuauflage), „Das SF-Jahr 2006“ (Heyne Verlag) und der Zeitschrift „phantastisch!“ #28:

[…] Für alle, die ihn nicht kennen: Ich halte ihn für einen Nachfahren von Oscar Wilde. Manche meinen zwar, er sei ein Autor von Abenteuerromanen, Reise- und Räuberromanen gewesen. Aber das ist Quatsch. Er war kein Friedrich Gerstäcker, kein Jack London und auch kein Karl May, sondern ein Moralist – literarisch gesehen.
Auch wenn ich den Beweis hier schuldig bleiben muss, für mich hat sich Nikolai von Michalewsky mit seiner Mark Brandis-Reihe in eine Traditionslinie hineingeschrieben, die innerhalb der europäischen Moralistik zu bedeutenden Literaten geführt hat: In Frankreich zu Michel Eyquem de Montaigne, in England zu Oscar Wilde und in Deutschland zu Georg Christoph Lichtenberg.

Nikolai von Michalewskys literarischer Ort ist nicht im Feld der unterhaltenden Erzählung zu suchen, sondern genau dort, in der europäischen Moralistik. Und hier ist er das nicht unbedingt häufige Exemplar eines Romanschriftstellers. Als solcher ist er übrigens – das sollte unbedingt erwähnt werden – einer, der es meisterlich versteht, Spannung zu erzeugen und immer weiter zu steigern, schier bis an die Grenze des gerade noch Erträglichen.
Seine Themen sind stets von einer pazifistischen Grundhaltung bestimmt, handeln aber vielleicht gerade deshalb immer wieder von politischen Konflikten und von bewaffneten Auseinandersetzungen. Seine Erlebnisse im Krieg haben ihn ebenso geprägt, wie die Erfahrungen mit Militärpersonal und deren Umgang mit Macht, Moral und Gewalt. In einigen Mark Brandis-Bänden findet man Sätze etwa der folgenden Art:

Militärs sind immer nur das Produkt jener Welt, die sie besoldet. Von Anfang an dazu erzogen, nur in den Kategorien Macht und militärische Stärke zu denken, sind sie zwangsläufig amoralisch. Ihre einzige Moral ist die militärische Überlegenheit ihres Vaterlandes. (»Raumsonde Epsilon«, S. 152.)

In den Mark Brandis-Romanen, die mitten im Kalten Krieg entstanden, bekundete Nikolai von Michalewsky ganz offen, dass ihn ein Gleichgewicht der Kräfte ebenso wenig überzeugen konnte, wie eine Politik der Abschreckung oder gar der Präventivgewalt. Ihm ging es vielmehr um ein »Gleichgewicht der Brüderlichkeit«.
Im Rahmen seiner schriftstellerischen Arbeit propagierte Nikolai von Michalewsky immer und immer wieder Brüderlichkeit, Solidarität und Humanität. Ist das ein Zeichen einer speziellen Ethik? Existiert möglicherweise eine Art Rückbindung an Glaube und Religion?

Bei metaphysischen Themen, bei Fragen nach dem Aufscheinen von Transzendenz in der Menschenwelt, tut sich das bei weitem größere Feld der Literatur schwer. Bei Nikolai von Michalewsky dagegen klingt immer wieder etwas an, das größer ist als die Erfahrungswelt der dreidimensionalen Wesen, die den Planeten Nummer Drei der Sonne bevölkern.

Dieses Größere könnte vorsichtig als »festes Wertekonzept« bezeichnet werden. Dieses Wertekonzept ist denen, die sich trotz aller Probleme, Schwierigkeiten und Zweifel danach richten, eine Hilfe, eine Stütze, eine unbedingte Richtschnur. Interessant hierbei: Was Nikolai von Michalewsky wirklich interessierte, war nie der technische Fortschritt, sondern ein ganz anderer: der »Fortschritt der Moral, der Brüderlichkeit, der Liebe«, wie er in dem exemplarischen Roman »Raumsonde Epsilon« (S. 192) notierte.

Dieser Fortschritt ist an Mark Brandis selbst, dem Helden der Serie, übrigens gut zu beobachten. Seine Devise: Woran du glaubst, dafür sollst du leben und sterben. Brandis verlässt eines Tages den halbautonomen raumfahrttechnischen Mammutkonzern VEGA »Erde-Venus, Gesellschaft für Astronautik«, wo er einst als Pilot, später als Commander, unter den Sternen geflogen war, um sich in den Dienst der UGzRR, der Johanniterflotte unter den Sternen, zu stellen. UGzRR bedeutet: Unabhängige Gesellschaft zur Rettung Raumschiffbrüchiger; eine blockfreie, humanitäre Hilfsorganisation mit Piloten und Ärzten verschiedener Hautfarbe, verschiedener kultureller Herkunft und verschiedener Religion. Der Anklang an die DGzRS in Kiel, die sich der Seenotrettung verschrieben hat, ist unüberhörbar.

httpv://www.youtube.com/watch?v=6mNMNhEGVNE

Nikolai von Michalewsky, der Dokumentarsendungen über das Leben auf dem Meer, Bohrinseln und eben die Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger produziert hat, fühlte sich den Männern und Frauen auf den Seenotkreuzern eng verbunden. Aus Wertschätzung für deren Dienst verdingte er sich sogar für freiwillige Einsätze auf den Rettungsbooten. Getreu seinem Grundsatz »Schreiben aus dem Erleben« mag nicht verwundern, dass der Autor seinen Protagonisten vom VEGA-Konzern zur UGzRR wechseln ließ.

[…] Die Protagonisten der WELTRAUMPARTISANEN gerieten zu lebendigen Verkörperungen der facettenreichen Strömungen, die unsere Zeit bestimmen, die die Menschen prägen und ihre Nöte sichtbar werden lassen. So mancher Kämpfer um Mark Brandis ist gestorben für das, woran er geglaubt hat.

Und der Autor der Reihe? Nikolai von Michalewsky dichtete einmal:

»es kommt der tag.
und keiner kann mich halten.
es steht im buch.
das fest sei aus.
und so, im banne von gewalten,
verlass ich dich, verlasse ich mein haus –
arm wie ich kam.
doch eines darf nicht fehlen
auf meinem weg zu Gottes thron:
gib mir die liebe mit ins reich der seelen
gib mir die liebe mit als meinen lohn!«

Die Gedanken hinter MARK BRANDIS

„Oberstes Ziel des Staates muß es sein, die verhängnisvolle Kluft aufzuheben, die zwischen Realpolitik und Ethik klafft.“
— aus „Aufstand der Roboter“, Band 4

„Mark Brandis“ wurde in einer Zeit geschrieben, in der deutsche Science Fiction einen bedeutenderen Stellenwert in der Gesellschaft hatte als heute und viel Medienpräsenz auf sich vereinigte. Inmitten dieses Hochs bekam der Journalist, Hörspiel- und Abenteuerromanautor Nikolai von Michalewsky (im folgenden mit NvM abgekürzt) den Auftrag, ein SF-Buch zu schreiben. Dies war ein ungewöhnlicher Schritt, denn mit SF hatte der Autor eigentlich noch nie etwas am Hut gehabt.

Doch gerade dieses Quereinsteigen war es, das zum besonderen Flair der Serie beitrug. Mangels „Fachkenntnissen“ konnte und wollte NvM nicht am allgemeinen Tenor der SF-Serien teilnehmen, in dem Action und Technik eine höhere Rolle spielten als die Menschen. Stattdessen entschied er sich, den Spieß umzudrehen und die menschliche Interaktion in den Vordergrund zu stellen.

In fast jedem Band wird die erste große zentrale These von NvM ersichtlich: bei aller Technik und aller Wissenschaft ist der Mensch alleine das Maß der Dinge. Der menschliche Geist steht über allem. Politik, Wissenschaft und Religion sind für NvM alle blind: in der Hand eines Aufrechten sind sie Werkzeug und Medizin, in der Hand eines Verbrechers Zerstörer und Gift.

In dieselbe Kerbe schlägt die zweite große zentrale These: der Glaube, daß ein Einzelner das Schicksal der Welt verändern kann. Der Glaube, daß der Einzelne stets das System bestimmt und nicht umgekehrt, ist charakteristisch für NvM.

Sicher stecken in beiden Thesen eine gute Prise Gutgläubigkeit, wenn nicht sogar Naivität. Doch diese unaufdringlich, aber stets bestimmt vorgetragene, kämpferische Lebensbejahung ist auch Ausdruck einer sehr bestimmten Weltanschauung.

DIE FIGUREN

„Zeit seines Lebens war Professor Westhoff ein Mann der Wissenschaft gewesen, der sich stets von politischen Dingern ferngehalten hatte. Als er sich niederließ und die Kopfhörer überstreifte, wußte er, daß es keinen Sinn hatte, sich etwas vorzumachen. „Leben Sie wohl, Brandis! Retten Sie sich und ihr Schiff!“ schrie er ins Mikrofon. Das Letzte, was Professor Westhoff zu hören bekam, bevor er starb, war ein Fluch.“
–aus »Verrat auf der Venus«

Die Charaktere wurden im MB-Universum von bloßen Pappkameraden zu „echten“, vielschichtigen Persönlichkeiten. Natürlich gab es da auch futuristische Elemente (tolle Raumschiffe, Weltraumfights, SF-Technologie), aber sie spielten nicht die Hauptrolle. Im Mittelpunkt standen die Menschen, die mit diesen Technologien zurechtzukommen hatten.

Mit „Menschen“ meine ich auch keine Halbgötter, sondern Menschen wie du und ich. John Harris zum Beispiel, der Vorgesetzte von Mark Brandis, ist einer authentischsten Figuren, die ich jemals in der SF kennengelernt habe. Er ist weder ein Klischee noch ein Anti-Klischee. So eine vielschichtige, glaubwürdige und authentische Mischung aus Arroganz und Leidenschaft, Kälte und Tatkraft sowie Zwirn und Overall habe ich eigentlich nie wieder erlebt.

Anderes gutes Beispiel für NvMs reizvolle Persönlichkeitsprofile: zuvor war der Astronaut in der SF oft ein androgynes Wesen, der die Heldin mal kurz in den Arm nehmen und küssen durfte, aber mehr auch nicht. Doch gleich im ersten Band „Bordbuch Delta 7“ bringt NvM das Kunststück fertig, Familie und Abenteuer glaubwürdig in Einklang zu halten. Da Mark Brandis‘ Kollegen beide verheiratet sind und Kinder haben, wollen sie partout nicht flüchten, bis auch die Flucht ihrer Liebsten geregelt ist. Der bloße Ansatz ist in der SF immer noch etwas ganz Ungewöhnliches.

Die letzte große Komponente dieses Entwurfs war die Ansicht, daß Klugheit und Dummheit weder national, politisch oder sonst irgendwie außerpersönlich festgemacht werden können. Er beschrieb auch in pikanter Weise, wie unterschiedlich ein arroganter Deutscher, ein arroganter Afrikaner und ein arroganter Italiener so wirken. Ich hatte nie das Gefühl, daß NvM jemals vergaß, wie unterschiedlich verschiedene Kulturen dieselben Emotionen verarbeiten. Menschen sind wie Zutaten im Salat: alle schmackhaft, aber alle unterschiedlich.
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Das letzte Interview

geführt von Carsten Kuhr (phantastik-news.de); zitiert mit freundlicher Genehmigung.

CK:
Ihre Biographie liest sich ein wenig wie die Geschichte eines Ihrer Romanhelden. Hafenarbeiter, Polizist, Taucher im Mittelmeer, Angestellter auf einer Kaffeeplantage im Kongo – ein Weltenbummler, der dann scheinbar als Autor von vornehmlich Hörspielen seßhaft wurde?

NvM:
Mir selbst erscheint meine Biographie als völlig normal. Stets war ich auf der Suche nach Freiheit. Als ich nach Afrika kam, war dort die Uhr des Weißen Jägers soeben abgelaufen, und die Bürokraten machten sich breit. So fand ich dann die Freiheit anderswo: in der Welt unter Wasser. Das Mittelmeer war voller Schätze. Man brauchte sie nur zu heben. Es gab rote Korallen, es gab Fische im Überfluß, es gab Berge von römischen Amphoren, und es gab den Schrott des 2. Weltkrieges. Zwar gab es auch Gesetze, aber die Staatsgewalt war fern und ohnmächtig. Niemand fragte nach irgendwelchen Scheinen. Wir Taucher lebten frei und stolz wie die Piraten. Und auch später, als sich die ersten Buch- und Hörspielerfolge einstellten, zog es mich aus bürgerlicher Enge immer wieder dorthin zurück. Und damit war die angesprochene Seßhaftigkeit aufgespalten in ein Leben in der großen Stille des Teufelsmoores und dem in der majestätischen Ruhe unter dem Sternenhimmel des Mittelmeeres. Oft genug habe ich bei Sturm geschrieben.

CK:
Warum das Pseudonym Mark Brandis, später auch Nick Norden etc., mußten Sie sich verstecken, oder war dies eine Vorgabe des Verlages ? Wie kam man auf den Namen Mark Brandis?

NvM:
Die Pseudonyme dienten der Abgrenzung von Sachgebieten. Und außerdem bildeten sie einen Nebelvorhang zwischen mir und der deutschen Literaturkritik, die es nicht goutieren wollte, daß ein Autor, der SF schrieb, daneben auch historische Romane verfaßte. Letzteres tat ich dann als Victor Karelin. Der Verlag hatte mit all dem nichts zu tun. Den Namen Mark Brandis wählte ich, weil sowohl dieser als auch ich, sein Erfinder, aus der Mark Brandenburg stammen.

CK:
Zunächst zu den „klassischen“ Mark Brandis Titeln. Ich erinnere mich z.B. daran, wie ich als kleiner Bub jedesmal mit klopfendem Herzen die Bücherei meines Heimatortes aufsuchte, und nach einem neuen MB Titel Ausschau hielt. Auch die Bibliothekarin wurde von uns jugendlichen Lesern bestürmt, nur ja jeden neuen Band schnellstmöglich zu bestellen. Die diversen Auflagen im Herder Verlag legen Zeugnis davon ab, daß die Serie ein verlegerischer „Renner“ war. Haben Sie von dem ganzen Trubel und der Begeisterung der Leser als Autor damals überhaupt etwas mitbekommen?

NvM:
Nein, leider erfuhr ich nichts davon. Der Verlag hielt sich von der Szene fern. Nur sporadisch erreichte mich ein Leserbrief.

CK:
Warum wurden Sie als Autor vom Verlag bzgl. der Publikumsresonanz so entschieden abgeschirmt? Wäre nicht eine Public Relations Arbeit mit Werbefeldzug u.U. mit Lesungen der naheliegendere Weg gewesen?

NvM:
Der Verlag ließ es sich vertraglich bescheinigen, daß das Pseudonym nicht gelüftet werden durfte. Dieser damals sehr große Verlag überließ seine einschlägige PR-Arbeit einer einzigen Dame, die auch nur halbtags beschäftigt wurde. Meine Tourneevorschläge fanden keine Gnade. Daran konnte auch mein Lektor, Anton Baumeister, dem ich mich bis auf den Tag freundschaftlich verbunden fühle, nichts ändern. Es lag am Management.

CK:
Hat sich der gute Absatz auch in den Tantiemen niedergeschlagen?

NvM:
Doch ja. Wenigstens das.

CK:
Wie fing damals eigentlich alles an? Gingen Sie mit einem ausgearbeiteten Konzept auf den Verlag zu, oder wurden Sie gezielt von Herder angesprochen, und wie kam man bei Herder auf den Hörspielautor NvM?

NvM:
Nachdem ich Herder mal dies, mal das angeboten hatte, tauchte eines Tages besagter Anton Baumeister bei mir auf mit dem Vorschlag, doch mal einen SF-Roman für ihn zu schreiben. Zunächst winkte ich ab. Auf dem Sektor war ich wirklich nicht bewandert. Zwar hatte ich einmal Jules Verne gelesen. Aber dann fiel mir meine geliebte Tante Marga ein, die um diese Zeit fast 100 war. Als sie das Licht der Welt erblickte, kämpfte drüben in den Staaten gerade Goldhaar Custer seinen letzten Kampf. Und als sie starb, trug der Mondstaub bereits die Abdrücke menschlicher Stiefel. Warum, so sagte ich mir, nicht mal versuchen, ein Jahrhundert vorauszusehen? Ich sagte zu – für ein Buch.
Einunddreißig sind es dann geworden. Aber, bitte, reiten Sie nicht immer auf dem Hörspielautor herum! Das ist doch nur die eine Facette.

CK:
Ihre Romane zeichneten sich, neben der Verlagerung des Ost-West Konflikts im Zeitalter des kalten Krieges in den Weltraum, und der dortigen Suche nach gewaltfreien Lösungswegen durch das „menschliche Element“ wie Sie selbst es einmal formulierten aus. Lag den erzählten Geschehnissen ein, wie immer auch vom Verlag vorgegebener oder genehmigungspflichtiger Entwurf zugrunde, oder waren Sie literarisch frei? Gab es Grob-Exposées oder entwickelten Sie die Handlung fortlaufend von Band zu Band weiter? Unterlagen Sie einer, wie auch immer gearteten Kontrolle durch den Verlag?

NvM:
Ohne Freiheit kein Brandis! Kurz, es gab weder Vorlagen noch Exposées. Mit jeder Fortsetzung überraschte ich mich selbst.

CK:
Auf wieviele Bände war die Reihe ursprünglich ausgelegt gewesen, oder gab es da ein open-end?

NvM:
Wie anfangs gesagt; auf einen Band. Alles weitere ergab sich. Der Verlag dachte dann immer nur von einem Band zum anderen. Nie gab es Gewißheit, daß es weitergeht.

CK:
Was führte letztlich, nach immerhin 31 Titeln zum wie wir nunmehr wissen vorläufigem Ende der Reihe? War das Ihre Entscheidung oder kam von Seiten des Verlages aus das Signal zum Halt?

NvM:
Sprachen wir nicht bereits davon? Von mangelnder PR und der Hilflosigkeit eines hervorragenden Lektors gegenüber dem Management…?

CK:
Unter dem Pseudonym Nick Norden startete, darf ich das so formulieren, Ihr Hausverlag Herder eine weitere Abenteuerreihe. Wie kamen Sie zu diesem Projekt?

NvM:
Es war die Ära einer bestimmten Fragestellung: Was wäre wenn…? Der Verlag kam damit auf mich zu. Aber nachher zuckte er zusammen, als die Kritik der Oberlehrer der Reihe ankreidete, daß sie sich eines Kriminellen zur Problemlösung bediente. Heute würde ich auch diese Reihe gern fortsetzen.

CK:
Wie ich erfahren habe, wurden kürzlich einige der ersten Bände der Reihe nach China lizenziert. Gab und gibt es noch andere fremdsprachige Ausgaben?

NvM:
Einiges erschien auf Portugiesisch, vieles in den Sprachen Skandinaviens und auf Holländisch.

CK:
Sie kommen beruflich gesehen in erster Linie vom Hörspiel und von der Kurzgeschichte her. Dies zeigt sich auch in Ihrem prägnanten, aufs Wesentliche konzentrierenden Stil. Gab es nie die Verlockung einmal einen „Ziegelstein“ zu verfassen, einmal aus dem starren Seitenkonzept des Verlages auszubrechen?

NvM:
Stimmt, ich habe einen Haufen Kurzgeschichten geschrieben – vornehmlich, um die Wechsel für ein Boot zu finanzieren, das mir am Herzen lag. Und ich habe über tausend szenische Manuskripte für den Rundfunk geliefert. Letztere kam den Dialogen in den Büchern zugute. Der prägnante Stil jedoch kommt wohl aus mir selbst: Ich bin kein Schwafler. Damit sind wir beim Seitenkonzept. Ich selbst steckte das Volumen ab. Die Seitenzahl entsprach der Erzählung und ihrem Gehalt. Zusätzliche Seiten wären nur Füllmaterial gewesen.

CK:
Auf der sehr liebevoll gestalteten Online-Seite um Mark Brandis erzählen Sie u.A., daß Sie von der Titelbildgestaltung der Mark Brandis Bücher von Robert André zunächst einmal gar nicht so begeistert waren. Für viele Fans der Serie dagegen war die Covergestaltung gerade weil sie anders war als das Übliche ein optischer Fixpunkt. Wie stehen Sie heute, mit zeitlichem Abstand zu den Zeichnungen Andrés? Bertelsmann legte kürzlich in seiner Omnibus Reihe die ersten Teile von Weltraum-Partisanen jeweils als Sammelbände mit zwei der ursprünglichen Abenteür in einem Taschenbuch mit neuen, dem Zeitgeschmack Rechnung tragenden Titelbildern wieder auf. Vielleicht hätte man bei Bertelsmann mit den „nostalgischen“ Bildern der Herder Ausgabe eher Käufer angesprochen, die die Schmöker ihrer Jugend gerne noch einmal zur Hand genommen hätten? Inzwischen wurde diese wünschenswerte Neuauflage wieder gestoppt. Wissen Sie warum es zu dieser Einstellung kam, bestehen Pläne irgendwelcher Art, die mittlerweile durch sehr gesuchten und rar gewordenen Titel den Lesern anderweitig wieder zugänglich zu machen – Stichwort BoD / E-book?

NvM:
Es ist wohl so, daß man als Autor immer ein anderes Cover erträumt als das, was man schließlich bekommt, doch schließlich haben Robert André und ich uns zu einer Einheit zusammengefunden. Aber das hat mit Bertelsmann nichts zu tun. Hier lag von Anfang an der Fehler in einer falschen Markteinschätzung. Inzwischen waren die Mark Brandis-Fans erwachsen geworden, aber in den Buchhandlungen standen und stehen die Omnibuseditionen bei den Kinderbüchern, wo sie keiner sucht. Das ist mit ein Grund, weshalb Ich mit dem Stop der Edition sehr einverstanden war. Momentan verhandele ich gerade über eine E-Book Ausgabe der alten Serie.

CK:
Nun, fast fünfzehn Jahre nach der Einstellung der ursprünglichen Reihe kehrt der Held unserer Jugend zurück. Bei Libri Books on demand erschien im Juli 2000 im Eigenverlag der erste neue Mark Brandis – Ambivalente Zone, der erste Band der Kosmonen Saga, die mit dem meines Wissens momentan in der Arbeit befindlichen Roman „Negativer Sektor“ weitergeführt wird. Was brachte Sie nach so langer Zeit dazu, sich wieder ihres Helden aus jüngeren Jahren zu erinnern und wieso im Eigenverlag ? Fand sich da kein Verleger, der das finanzielle Risiko einer Publikation einzugehen bereit war, oder wollte NvM vollkommen von allen fremden Zwängen frei sein?

NvM:
Als ich mich entschloß, meinen Fans zur Freude, Mark Brandis wiederaufleben zu lassen, war die SF-Literatur gerade in der Krise. Die einschlägigen Verlage argumentierten mit rückläufigen Absatzzahlen, und ich hatte keine Lust, noch weitere Klinken zu putzen. Und da ich schon immer frei sein wollte… – auch zum Aufbruch zu neuen Ufern …

CK:
Auf wieviele Bände ist der neue Zyklus ausgelegt ?

NvM:
Die zeitliche Grenze setzen nur meine Leser oder der Tod.

CK:
In Ambivalente Zone kehrt der Held meiner Jugend zurück – ein Held aber, der uns als ein gänzlich Anderer geschildert wird, als der Mark Brandis der 31 Jugendbücher. Wir begegnen einem Menschen, der künstlich geboren und von keinen Gefühlen beherrscht auf der Suche nach eben diesen Gefühlen, im Grunde genommen auf der Suche nach sich selbst ist. Da stellt sich mir die Frage, ob diese Suche vielleicht auch die Suche des Autors nach sich selbst dokumentiert? Will der Autor uns Leser vielleicht zusammen mit seinem Handlungsträger dazu animieren auf die Suche nach unseren Gefühlen, nach unserem Ich, letztlich nach unserem Platz in der Welt zu gehen? Oder will der Autor NvM heute einfach auch über andere, tiefgründigere Themen (welche?) schreiben, wie vor 15 Jahren?

NvM:
Auch der Autor ist ein anderer geworden. Das gilt auch für seine Fragestellungen. Voltaire hat einmal gesagt: Wenn es Gott nicht gäbe, müßte man Ihn erfinden… Die Fragen des Autors kreisen um die Gültigkeit der Werte. Der neue Mark Brandis steht vor der Aufgabe, in der synthetischen Welt, in die ihn das Schicksal gestellt hat, die verschütteten Werte wiederzuentdecken oder aber, siehe Voltaire, zu erfinden…

CK:
Der Charakter des MB, ja die ganze Person hat sich in Ambivalente Zone gegenüber der alten Reihe grundlegend gewandelt. Warum diese tiefgreifende Änderung, was bewegte den Autor NvM dazu, vom Gewohnten, Liebgewonnenen und Erfolgreichen Abschied zu nehmen? Sind das Ermüdungserscheinungen bzgl. des „Helden“ Mark Brandis?

NvM:
Geändert hat sich nicht der Charakter von Brandis, geändert hat sich seine Umwelt. Für mich war das ein grosser Schritt nach vorn. Ein Wiederauflebenlassen der „Weltraumpartisanen“ wäre keine Herausforderung gewesen, sondern ein Abrutschen in die Routine. Und vor diesem Los möchte ich mich bewahren.

CK:
Warum wurde der Protagonist MB angesichts solch gravierender Änderungen überhaupt beibehalten ? Sollten damit die alten Leserkreise und Fans als Publikum mittels des Signets „Mark Brandis“ als Zielgruppe der Vermarktung angesprochen werden, oder wäre die Anlage einer gänzlich neuen Welt mit neuen Personen zu umständlich gewesen ?

NvM:
Es wäre das Einfachste gewesen, mit neuen Personen zu starten, aber wie ich in einem anderen Interview einmal sagte: Mark Brandis ist mein Zwilling, mein zweites Ich. Sollte ich mir selbst untreu werden? Und damit sind wir schon bei der Fragestellung eines der nächsten Bücher der neuen Reihe, Fragestellung oder These?: »Wer sich selbst nicht treu bleibt, bleibt keinem treu.«

CK:
Nicht nur das Bild unseres Protagonisten hat sich geändert, auch der Inhalt des Romans hat sich gewandelt. Winfried Brand hat es prägnant in dem einen Satz zusammengefaßt: »Statt der Suche und Verteidigung demokratischer Werte geht MB nun daran, die menschlichen Werte auszuloten«. Findet diese sicherlich sehr vereinfachte Wertung Ihre Zustimmung?

NvM:
Winfried Brand hat den Nagel auf den Kopf getroffen.

CK:
Welchen Weg wird MB in den folgenden, hoffentlich erfolgreichen Bänden einschlagen, wie geht es weiter – ohne daß wir natürlich zuviel verraten wollen ?

NvM:
Die Richtung dürfte bereits skizziert sein. Fügen wir hinzu, daß auch das abenteuerliche Element dazu gehört. Lassen Sie mich Letzteres aus eigener Erfahrung definieren: »Nur der Narr sucht das Abenteuer. Aber wenn das Abenteuer dich findet, steckst du bis über die Ohren im Dreck – und tust dein Bestes, um da wieder rauszukommen«. Mark Brandis wird es uns vorleben.

CK:
Winfried Brand hat Ambivalente Zone in Flash inhaltlich sehr positiv besprochen, an der Aufmachung jedoch meines Erachtens nicht ganz zu Unrecht Kritik angemeldet. Warum die Schriftart Times New Roman, warum wird jeder Absatz durch eine Leerzeile getrennt? War es nicht machbar, Robert André wieder mit ins Boot zu nehmen, oder wollten Sie ganz gezielt auch äußerlich durch das avantgardistische Titelbild die Weiterentwicklung unserer liebgewonnenen Legende MB dokumentieren?

NvM:
Also. BoD ist für mich eine neue Erfahrung. Ich bin Schriftsteller, kein Drucker. Aber ich lerne dazu, also meckert nicht. Und Robert André habe ich deshalb nicht bemüht, weil auch die Aufmachung meinen neuen Weg dokumentieren soll. Und auf diesem Weg werde ich weitergehen. Vorwärts, nicht zurück. Und ich wäre glücklich, wenn meine Leser mir auf diesem Weg folgen würden.

CK:
Ein bekanntes Problem bei den Libri BoD ist immer, wie der Leser da draußen erfährt, daß es das Buch überhaupt gibt. Ich selbst habe von AMBIVALENTE ZONE auch erst über phantastik.de erfahren. Wie gehen Sie da vor ? Sind Sie mit den bisherigen Absatzzahlen zufrieden ?

NvM:
Ich verlasse mich auf die Buschtrommeln. Und über Absatzzahlen soll man erst reden, wenn wir die Sonne zumindest einmal umkreist haben.

CK:
Wir haben vorhin bereits einmal die sehr liebevoll gestaltete Internetseite um Mark Brandis angesprochen (www.markbrandis.de). Sind Sie in die Gestaltung etc. involviert?

NvM:
Hierauf zu antworten, ist mir eine Freude. Der Initiator und Webmaster der Seite ist mit unerhörtem Engagement an die selbstgestellte Aufgabe herangegangen. Ich habe nur gelegentlich zugeliefert.

CK:
Wie geht es weiter mit NvM ? Was macht NvM momentan, wenn er gerade nicht an MB arbeitet ?

NvM:
NvM wird wohl weitermachen als MB, was ihn nicht hindern wird, demnächst einen Band Gedichte herauszugeben. Auch eine Facette. Auch freue ich mich auf eine ausführliche Webseiten-Story, an der mein getreuer Leser und Fan Volker Niemeyer, Herausgeber von www.bazonga-press.de eifrig arbeitet.

CK:
Haben Sie vielen Dank für das Gespräch via eMail und alles Gute für Sie und Ihre Frau!